Situation in Deutschland hinsichtlich der mathematischen Kompetenzen von Schülerinnen und Schüler

Nach wie vor weist ein beträchtlicher Anteil der Schülerinnen und Schüler in Deutschland unzureichende mathematische Kompetenzen auf. Dieser Anteil entspricht bei den Fünfzehnjährigen, die die untersten Kompetenzstufen (unter Stufe II) erreichen, in etwa dem OECD-Durchschnitt. Nach PISA 2012 hat dieser Anteil besonders leistungsschwacher Schülerinnen und Schüler zugenommen. Mehr als 20 % der Fünfzehnjährigen verfügt somit nur über rudimentäre mathematische Kenntnisse. Dies kann mit Problemen an der gesellschaftlichen Teilhabe einhergehen. Insbesondere an nicht gymnasialen Schularten ist der Anteil dieser Jugendlichen mit 30 % besonders groß. Ihnen fehlt es an einem grundlegenden konzeptuellen Verständnis basaler Operationen, so dass sich darauf gestützte weiterführende mathematische Kompetenzen nicht zu einem zusammenhängenden Netzwerk von Wissensbestandteilen verknüpft konnten. Konzeptuelles Wissen ist notwendig, um ein abstraktes Tiefenverständnis der Prinzipien und Relationen zwischen Aussagen in einer Wissensdomäne zu erwerben und das Wissen dekontextualisiert und zum Lösen von Problemen anwenden zu können.

Modelle der Kompetenzentwicklung

In den letzten Jahren wurden mehrere Modelle zur Entwicklung arithmetischer Kompetenzen publiziert, die die Entwicklung arithmetischer Kompetenzen aus unterschiedlichen theoretischen Perspektiven in den Blick nehmen: die neurokognitive, die kognitiv-entwicklungspsychologische und die mathematikdidaktische.

Das kognitiv-entwicklungspsychologisch orientierte „Entwicklungsmodell arithmetischer Konzepte“ (Fritz & Ricken, 2008; erweitert durch Fritz, Ehlert, Balzer, 2013) zielt auf den sukzessiven Erwerb präziser arithmetischer Kompetenzen im Sinne konzeptuellen Wissens für
den Altersbereich von 4 bis 8 Jahre ab. Das aktuelle Modell nach Fritz, Ehlert & Balzer (2013) umfasst 6 Entwicklungslevels:
Niveau I: Zählzahl
Niveau II: Ordinaler Zahlenstrahl
Niveau III: Kardinalität und Zerlegbarkeit
Niveau IV: Enthaltensein und Klasseninklusion
Niveau V: Relationalität
Niveau VI: Zahlen gleichmächtig entbündeln

Symptome bei Rechenschwierigkeiten

Die ersten Probleme können bereits beim Zählen auftreten. So fällt es den Kindern schwerer sich die Zahlwortreihe zu merken und die Eins-zu-Eins-Zuordnung zu erwerben (beim Zählen auf Objekt zeigen, bzw. Finger hochklappen und gleichzeitig Zahlwort sagen). Zählfehler sind normal, sie sollten sich allerdings reduzieren. Normalerweise werden die Zählfertigkeiten durch Weiterentwicklung effektiver. Diese Weiterentwicklungen schreiten allerdings bei Kindern mit Rechenschwierigkeiten weniger schnell voran. Den Kindern fällt es weiter schwer das kardinale Verständnis aufzubauen und somit eine Mengenvorstellung mit einem gehörten Zahlwort zu verbinden. Im Schulalltag nutzen die Kinder deutlich länger als andere Kinder die Finger zum Zählen oder anderes zählbares Material. Sie erwerben nicht ohne Unterstützung das Teile-Ganzes-Konzept, was das Verständnis der Determination von Teilmengen und der dazugehörigen Gesamtmenge beinhaltet. Ziel dieses Verständnisses ist es, aus zwei bekannten Mengen eine unbekannte Menge zu ermitteln, unabängig davon, ob es die Gesamtmenge oder eine der beiden Teilmengen ist. Der sehr erschwerte Erwerb der arithmetischen Konzepte setzt sich auch im späteren Verlauf der Grundschule fort, so dass auch die Multiplikation und Division grundsätzlich nicht verstanden wird (unabhängig davon, ob diese auswendig gelernt wurde, was nicht zum Verstehen beiträgt), das Stellenwertsystem nicht in der Tiefe erworben wird, um sicher im höheren Zahlenraum zu agieren. Sachaufgaben stellen eine besondere Hürde dar, obgleich diese vor allem im Vergleich zu den Ziffernformaten sehr gut die Beziehungen zu den verschiedenen Mengen darstellen können und somit für die Förderung einen besonderen Wert haben. Die hier beschriebenen arithmetischen Konzepte bilden die Grundlage für den Erwerb der Sekundarschulmathematik (ab Klassenstufe 5).

Durch die ständigen Misserfolge beim Rechnen entwickeln die Kinder oft Ängste vor dem Mathematikunterricht oder vor der Schule und eine geringe Leistungsmotivation. Das wirkt sich wiederum ungünstig auf die Rechenschwierigkeiten aus. Insgesamt können die Schwierigkeiten beim Rechnen und ihre psychischen Folgen die Lebensqualität der Kinder deutlich beeinträchtigen.

Häufigkeit, Verlauf und Ursachen

Etwa drei bis sechs Prozent der Kinder im Schulalter sind von einer sogenannten Rechenstörung betroffen (nach ICD 10 / ICD 11). Sie kommt damit vergleichbar häufig wie eine Lese-Rechtschreib-Störung vor. Rechenschwierigkeiten treten dagegen bei deutlich mehr Kinder auf, allerdings erfüllen sie nicht die Definition einer schulischen mathematischen Entwicklungsstörung. Was sie allerdings nicht davor schützt, Probleme in der Berufsausbildung und im Arbeitsleben aufgrund der Rechenproblematik zu haben.

Wird nicht gezielt interveniert, bleiben Rechenstörungen und Rechenschwierigkeiten meist bis ins Erwachsenenalter bestehen. Die Probleme beim Rechnen können dann zu deutlichen Beeinträchtigungen in der Schule, im Berufsleben und im Alltag führen. Günstige Faktoren für den Verlauf sind eine leicht ausgeprägte Rechenproblematik und eine gute Intelligenz, ungünstige Faktoren sind Aufmerksamkeitsdefizite und Probleme beim Lesen und Schreiben.

Bisher ist nicht bis in das letzte Detail bekannt, wie eine Rechenstörung entsteht. Es wird angenommen, dass mehrere Faktoren bei ihrer Entstehung zusammenwirken. So werden entwicklungspsychologische Ursachen diskutiert, aber auch kognitionspsychologische und neuro-psychologische Ursachen in Betracht gezogen.

Psychische und soziale Faktoren können zusätzlich dazu beitragen, dass sich die Problematik verschlechtert, zum Beispiel, wenn der mathematische Unterrichtsstoff didaktisch schlecht vermittelt wird oder Lücken im mathematischen Verständnis bzw. bestehende Rechenprobleme im Unterricht nicht berücksichtigt werden. Zudem können die Kinder in Zusammenhang mit dem Rechnen Ängste und negative Gefühle entwickeln, weil sie häufig Misserfolgserlebnisse haben, gehänselt werden oder von Eltern oder Lehrern unter Druck gesetzt werden.

Zusätzlich zu einer Rechenstörung liegen häufig weitere psychische Auffälligkeiten oder Störungen vor. Diese sind oft eine Folge der Rechenstörung, können aber auch unabhängig davon auftreten.

Am häufigsten sind Ängste (z. B. Angst vor dem Rechnen, generelle Schulangst), Depressionen und Störungen des Sozialverhaltens (z. B. aggressives Verhalten), eine Lese-Rechtschreib-Schwäche und eine ADHS. Tritt die Rechenstörung zusammen mit einer LRS auf, spricht man auch von einer kombinierten Störung schulischer Fertigkeiten.

Infolge der psychischen Belastung durch bestehende Rechenschwierigkeiten können auch psychosomatische Beschwerden wie Bauch- oder Kopfschmerzen auftreten.

Literatur

Fritz, A., & Ricken, G. (2008). Rechenschwäche (Dyscalculia). Stuttgart: UTB.
Fritz, A., Ehlert, A., & Balzer, L. (2013). Development of mathematical concepts as the basis for an elaborated mathematical understanding. South African Journal of Childhood Education, 3(1), 38–67.
Fritz, A., Ehlert, A. & Leutner, D. (2018). Arithmetische Konzepte aus kognitiv-entwicklungspsychologischer Sicht. Journal für Mathematik-Didaktik, 39(1), 7-41.